Studienfahrt des Geschichts-Leistungskurses der Lichtenbergschule Darmstadt nach Krakau und Auschwitz vom 10.10.2015-18.10.2015
"Schüler gegen das Vergessen" auf den Spuren Darmstädter Bürgerinnen und Bürger, die in Auschwitz ermordet wurden...
Eine Initiative der Lichtenbergschule Darmstadt und des Vereins "Gegen Vergessen - für Demokratie e.V."
In den Tagen vor unserer Fahrt war noch nicht viel Anspannung, aber doch eine gewisse Vorfreude auf unsere Abschlussfahrt zu spüren. Trotzdem tauchten hin und wieder Fragen und Momente der Unsicherheit auf, wenn wir daran dachten, dass nach vier Tagen in Krakau unsere Fahrt nach Auschwitz führen würde: Was erwartet uns dort? Wie werden wir uns fühlen? Müssen wir weinen? Wie wird es sein, sich intensiv mit diesem Ort des Schreckens, der oft so genannten "Metropole des Todes" auseinanderzusetzen? Gemeinsam mit unseren Lehrkräften, Frau Sachse, Herrn Heinrich und Frau Diessl, hatten wir uns auf diese achttägige Fahrt vorbereitet. Jede Schülerin und jeder Schüler hatte sich einen Themenschwerpunkt ausgesucht, dazu recherchiert und einen Kurzvortrag für die täglichen Gesprächsrunden vorbereitet. Themen wie Steven Spielbergs Film "Schindlers Liste" führten zu Recherchen über Oskar Schindler und seine Fabrik. Außerdem wurden Präsentationen über Krakaus jüdisches Viertel Kasimierz, über die sozialistische Arbeiterstadt Nowa Huta, über den Kommandanten des KZ Plaszow bei Krakau, Amon Göth, über den Aufstand im Warschauer Ghetto, aber auch über "Auschwitz: Realität und Symbol" und "die Rolle der Rezeption in den Social Media heute" vorbereitet. Neben den individuellen Vorbereitungen besuchten uns Frau Rützel und Frau Dr. Krimmel vom Darmstädter Stolpersteine-Projekt und stellten uns Biografien von Darmstädter Bürgern vor, die nach Auschwitz deportiert und dort ermordet worden waren. Unter anderem erhielten wir Einblicke in Leben und Werk des Darmstädter Museumskustos Dr. Karl Freund und in die Familiengeschichte von Caroline Strauss und Liese und Hedwig Juda, deren Pariser Nachfahre Pierre Jablon uns auf unserer Fahrt nach Krakau und Auschwitz begleiten würde. Am letzten Tag vor unserer Fahrt besuchte uns das Polenmobil des Deutschen Polen-Institutes aus Darmstadt, dessen vierköpfiges Team uns in 90 Minuten Einblicke in landeskundliche, historische, kulturelle und politische Inhalte zu Polen vermittelte. Am Ende des Tages konnten wir dann erfolgreich "Hallo -- cześć" und "Entschuldigung -- przepraszam" sagen sowie das polnische Geburtstagslied "Sto lat!!" singen, was anlässlich von Luisas 18. Geburtstag am 16.10. tatsächlich umgesetzt wurde.
Gut vorbereitet traten wir unsere Reise im Zeichen „Schüler gegen das Vergessen“ am Samstag, den 10. Oktober um 22 Uhr an. Nach fünfzehn Stunden Busfahrt erreichten wir Krakau, Polens zweitgrößte Stadt. Ich muss zugeben, dass wir auf den ersten Blick etwas enttäuscht waren, denn es hieß doch immer, Krakau sei eine wunderschöne Stadt, die gesamte Altstadt gehört immerhin zum UNESCO-Weltkulturerbe. Stattdessen sahen wir beim Hereinfahren in die Stadt nur alte und heruntergekommene Häuser. Doch als wir später in Richtung Altstadt gingen, erwartete uns eine bunte Mischung an Bauwerken der Gotik, des Barock, der Renaissance und späterer Kunstepochen. Seit vielen Jahrhunderten war Krakau in keinem Krieg zerstört worden, weswegen auch diese einzigartige Mischung existiert. Über Nacht begann es zu schneien, sodass wir am Montag durch Schneeregen zu Schindlers Fabrik gingen, in der wir von einem Local Guide durch die Ausstellung über die Geschichte Krakaus im Zweiten Weltkrieg, das Generalgouvernement, das Krakauer Ghetto, dessen Auflösung und zum Schluss über Schindlers Fabrik und die von ihm geretteten ca. 1.100 sogenannten "SchindlerJuden" geführt wurden. Nachmittags wurden wir von unserer polnischen Fremdenführerin Aleksandra durch die Altstadt geführt. Dabei zeigte sie uns den Marktplatz mit den Tuchhallen Krakaus ältestes Handelshaus - und die Marienkirche mit ihren zwei ungleich hohen Türmen und dem großen Flügelaltar, der von dem Nürnberger Künstler Veit Stoß geschaffen worden war. Die Führung endete beim Collegium Maius der Jagiellonen-Universität, die nach der Prager Universität die zweitälteste Uni in Ostmitteleuropa ist. Hier wärmten wir uns in der Studentencafeteria mit einem warmen Kakao auf. Am nächsten Tag erwartete uns ein Kontrast-Programm. Nachdem wir montags die schöne und kunsthistorisch abwechslungsreiche Altstadt gesehen hatten, fuhren wir nach Nowa Huta, einer 1949 errichteten Arbeiterstadt, die als kommunistische Vorzeigestadt von der sozialistischen Regierung bei den besten Architekten Polens in Auftrag gegeben und gebaut worden war, aber bereits in den 60er Jahren von Unruhen erschüttert wurde, als die Bevölkerung sehr nachhaltig den Bau einer Kirche forderte. Wir besuchten auch die Kirche – die Arche - und fanden an vielen Stellen Spuren des polnischen Papstes Johannes Paul II., der sich bereits als Kardinal von Krakau für diesen Kirchenbau eingesetzt hatte.
Ab Mittwoch wurden wir von Pierre Jablon, einem französischen Nachfahren von Darmstädter Shoah-Opfern, begleitet. Gemeinsam mit ihm besuchten wir den bekannten Wawelhügel, in dessen Kathedrale die meisten der polnischen Könige und Nationalhelden begraben liegen. Nach dem Besuch der königlichen Gemächer im Wawel-Schloss ging es ins jüdische Viertel Kasimierz, auf den jüdischen Friedhof und zur Alten Synagoge. Am Ende der Führung zeigte uns Aleksandra einen der Schauplätze aus dem Film "Schindlers Liste", der genau hier gedreht worden war. Viele sahen bei diesem Rundgang erstmals einen jüdischen Friedhof und ein jüdisches Viertel. Leider wurde das sehr lebendige Leben der jüdischen Gemeinde in Krakau durch die Shoah abrupt beendet. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten 70.000 Juden hier. Jeder vierte Krakauer war jüdisch. Heute zählt die Krakauer jüdische Gemeinde nur noch 176 Mitglieder.
Danach ging es zu dem unterirdischen Museum unter den Tuchhallen, in dem eine Ausstellung über das Leben und den Handel in Krakau im Mittelalter gezeigt wird. Unser Abschlussabend und Auswertungstreffen zu den Tagen in Krakau begann mit einem gemeinsamen Abendessen im Hard Rock Café gegenüber den Tuchhallen. Wir setzten das intensive Gespräch und die Diskussion über das Gesehene und Erlebte später mit Pierre Jablon im Aufenthaltsraum unseres Hostels Atlantis fort. Als wir über unsere Gefühle und Gedanken im Hinblick auf die Fahrt nach Oswiecim redeten, sprachen viele über ihre Unsicherheit, über das, was uns erwartete, und formulierten die besorgte Frage, ob wir geschockt, traurig oder sprachlos sein würden. Am Donnerstag, den 15. Oktober fuhren wir nach Oswiecim. Nachmittags besuchten wir das Jüdische Zentrum, in dem wir in das jüdische Leben in Oswiecim vor 1939 und nach 1945 eingeführt wurden. Auch Oswiecim war vor dem Krieg eine sehr lebendige jüdische Gemeinde mit 60.000 Mitgliedern. Nach dem Krieg kehrte nur ein Überlebender in diese Gemeinde zurück. Seine Erben stifteten sein Haus, in dem heute das Café Bergson untergebracht ist, das zum Jüdischen Zentrum gehört. Anschließend gingen wir zum Jüdischen Friedhof. Dieser wurde nach 1945 wiederaufgebaut und die Grabsteine, die von den SS-Aufsehern zum Straßenbau verwendet worden waren, wurden dort wieder aufgestellt. Dieser Tag in der Kleinstadt Oswiecim zeigte uns, dass mit Auschwitz häufig "nur" das Konzentrationslager verbunden, und häufig übersehen wird, dass Oswiecim auch eine Stadt mit 40.000 Einwohnern ist. Nichtsdestotrotz war es ein mulmiges Gefühl zu wissen, dass keine 800 m entfernt von unserer Herberge -- dem von der katholischen Kirche betriebenen "Zentrum für Dialog und Gebet"- das Stammlager Auschwitz liegt.
Am 16. Oktober machten wir uns mit unseren Gästen Pierre Jablon und dem spät abends aus Israel angereisten Historiker Prof. Gideon Greif im Nebel auf den Weg zum Stammlager. Dort wurden wir von Herrn Prof. Greif (israelisch-jüdischer Wissenschaftler) und Frau Krystyna Oleksy (polnisch-katholische Leiterin der Erinnerungsstiftung Auschwitz-Birkenau, die ihr ganzes berufliches Leben der pädagogischen Arbeit in Auschwitz gewidmet hat) geführt. Wir besichtigten die Baracken, in denen Bilder und Dokumente aus der Zeit des Weltkriegs ausgestellt sind. Bei den Räumen mit den Bergen von Haaren, Koffern, Prothesen, Kinderschuhen und Geschirr blieb mir die Sprache weg. Mir vorzustellen, dass jeder einzelne dieser Gegenstände Geschichten zu seinem Besitzer erzählen könnte, dass sich hinter jedem Schuh, hinter jedem Koffer, hinter jedem Topf ein Menschleben verbirgt, dessen Identität einfach gelöscht wurde, konnte ich mir nicht vorstellen. Auch das Wissen, dass vor über 70 Jahren über dieselben Straßen und durch dieselben Baracken Menschen gegangen sind, bedrückte mich. Im Stammlager sahen wir das "Buch der Namen" -- "Book of Names", in dem die Namen der Ermordeten stehen. In diesem fanden wir die Namen von Dr. Karl Freund, Caroline Strauss und Hedwig Juda, sodass wir die Spuren der Darmstädter Bürger und Bürgerinnen fanden, die uns bereits bei dem Vortrag der Stolperstein-Initiative begegnet waren. Jedoch war der Name von Liese Juda nicht aufgelistet, sodass wir uns zurück in Darmstadt weiter auf Spurensuche -- zum Beispiel beim ITS Bad Arolsen - begeben werden. Neben der regulären und der jüdischen Ausstellung durften wir Baracke 2 besichtigen, die in ihrem ursprünglichen Aussehen mit den Strohmatratzen, den Sanitäranlagen und den großen Schlafsälen rekonstruiert worden war. Da ich bereits vor drei Jahren das KZ Buchenwald bei Weimar besichtigt hatte, fand ich das KZ "Stammlager" in Auschwitz verhältnismäßig klein. Als wir jedoch am nächsten Tag zum Vernichtungslager Auschwitz-II-Birkenau fuhren, merkte ich, dass ich mit "Auschwitz" immer dieses große Lager in Verbindung gebracht hatte und nicht das Stammlager, in dem anfangs sowjetische Kriegsgefangene und später Zwangsarbeiter interniert worden waren.
Der Besuch des Vernichtungslagers Birkenau war erschreckend. Ich kann mir trotz des existierenden Bildmaterials nicht vorzustellen, wie das Leben in einem KZ, in einer solchen "Todesfabrik" gewesen sein muss. Wir können immer mehr darüber lesen, aber wir werden uns das Ausmaß der Angst, die Hoffnungslosigkeit, den Terror und den Schrecken nie vorstellen können. Es ist so irreal, dass in diesen vier Krematorien bis zu 1,1 Millionen Menschen verbrannt worden sind, die vorher in den Gaskammern ermordet worden waren. Ich war sprachlos... Ich wusste nicht, wie ich meine Gefühle in Worte fassen oder wie ich sie ausdrücken sollte. Schwer vorstellbar war für uns auch das Nebeneinander von bis zu 100.000 im "Wartezimmer des Todes" dahinvegetierenden registrierten Häftlingen (Zwangs- oder Sklavenarbeitern) in den Birkenauer Baracken und den von der Rampe weg zum Tod selektierten, direkt nach ihrer Ankunft in die Gaskammern geleiteten 900.000 Todeskandidat-innen, die in endlos wirkenden Schlangen an den Bahngleisen entlang – unter den Blicken der unglückseligen Häftlinge - in Richtung des Birkenwäldchens zogen, wo Gaskammern, Krematorien und Verbrennungsgruben installiert worden waren und NS-Täter den Tod industriell "produzierten", wie uns Prof. Greif anschaulich verdeutlichte. Wenige Tage vorher war sein jüngstes Werk über den Aufstand im Sonderkommando Auschwitz vom 7.10.1944 im Kölner Böhlau-Verlag erschienen. Er hat sich wissenschaftlich besonders mit den wenigen überlebenden jüdischen Arbeitern der Sonderkommandos beschäftigt und nahm sich sehr viel Zeit, all unsere Fragen zu Auschwitz und Birkenau zu beantworten. An beiden Nachmittagen besuchten einige Schüler und Schülerinnen nach vier- bis fünfstündiger Führung durch das Stammlager und durch Birkenau in einer als Seminarhaus umgebauten Baracke im Stammlager einen Workshop und einen Multimedia-Vortrag. Dieser Vortrag unter dem Thema "SS-Aufseher - ganz "normale" Menschen" und der Workshop "Pseudomedizinische Versuche in Auschwitz" gaben uns weitere Einblicke in den Alltag und in Biografien der Täter, die in Auschwitz als Lagerkommandant, SS-Aufseher/Aufseherin oder SS-Arzt gearbeitet haben.
Gespräche untereinander und mit unseren Lehrkräften und den angereisten Expert-innen halfen uns, das Erlebte zu bewältigen und uns gegenseitig Halt zu geben. Als Kurs sind wir in diesen Tagen enorm zusammengewachsen.
Auf unserer Rückfahrt von Auschwitz nach Darmstadt hatten wir einen zweistündigen Aufenthalt in Dresden, wo bereits die Vorbereitungen für eine große PEGIDA-Demonstration zum Jahrestag dieser Veranstaltungen am darauffolgenden Tag liefen. Einmal mehr wurde uns vor Augen geführt, dass Intoleranz, Fremdenhass und Diskriminierung sehr aktuelle Themen sind und ihre Folgen nicht unterschätzt werden dürfen.
Ich bin froh, dass ich die Möglichkeit hatte, diese Gedenkstättenfahrt machen zu können und dass wir als Geschichts-Leistungskurs so ein Zeichen "Schüler gegen das Vergessen" setzen konnten. Da wir die Gelegenheit hatten, uns dem Thema aus sehr verschiedenen Perspektiven zu nähern und uns mit einem israelischen Wissenschaftler, einer polnisch-katholischen Expertin, einem europäisch-französisch-jüdischen Nachfahren und auch untereinander auszutauschen, haben wir multiperspektivische Zugänge zum Thema der Studienfahrt kennen gelernt und vertiefte Erkenntnisse auch über unterschiedliche Gewichtungen der Erinnerungskultur erlangen können. Es ist wichtig, dass wir uns mit unserer Geschichte auseinandersetzen, um bis heute anhaltende Spannungen zwischen Völkern und Ethnien verstehen zu können. Es ist wichtig, dass trotz verschiedener Meinungen und Standpunkte immer ein Weg des Dialogs offen gehalten werden sollte, um gemeinsam gewaltfreie Lösungen zu finden. Wir dürfen nicht zulassen, dass Intoleranz, Fremdenhass und Wut die Oberhand gewinnen. Wir müssen ein Zeichen gegen das Vergessen und für eine gerechte, humane, demokratische und offene Welt schaffen.
Darmstadt, den 30.10.2015, Saskia Heineken